Goldener Psalter von St. Gallen

Die Rothschild Canticles

Ein Unikum der Buchmalerei

In den Rothschild Canticles, die heute in der berühmten Beinecke Library der Yale University in New Haven aufbewahrt werden, erblüht auf 192 Seiten ein Florilegium, ein Blumenstrauß an Texten und Bildern, der die mystische Glaubenserfahrung des Mittelalters wahrnehmbar macht.

Der Codex ist nach der Familie Rothschild benannt, in deren Besitz er sich einst befand, und nach der Tatsache, dass der Text eine Reihe von Auszügen aus dem biblischen Hohelied enthält. Die wichtigsten Quellen sind darüber hinaus die anderen Weisheitsbücher der Bibel, die prägenden Propheten sowie Augustinus, der geniale Denker und Kirchenlehrer, vor allem sein so einflussreicher Text De trinitate (dt. Über die Dreifaltigkeit). Der unbekannte Verfasser, der um 1300 ein Gesamtkunstwerk schuf, zeichnet sich durch profunde theologische Kenntnisse aus.

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Faksimile-Edition

Die Rothschild Canticles: Die Handschrift

Rothschild Canticles, fol. 55r

Mystisch und mysteriös

46 ganzseitige Miniaturen mit außergewöhnlicher Ikonographie, 160 kleinere Miniaturen, 41 historisierte Initialen und 23 später hinzugefügte Tintenzeichnungen schmücken die insgesamt 192 Folios der zwei Bücher des Codex. Unzählige Randfiguren und Drôlerien füllen die Seiten. Hohe Buchmalkunst und textliche Vielfalt geben im wahrsten Sinne des Wortes zu denken. Kein Genretitel wird dem Inhalt gerecht. »Ein Potpourri aus Bibelversen, liturgischem Lob, dogmatischen Formeln, Exegese und theologischen Aphorismen … die Handschrift führt ihren Benutzer Schritt für Schritt durch Meditationen über das Paradies, das Hohelied und die Jungfrau Maria zur mystischen Vereinigung und schließlich zur Kontemplation der Dreifaltigkeit« (Barbara Newman). Für den heutigen Leser eröffnet sich ein spannender Blick in die Denkweise der Menschen im Mittelalter.

Entstanden in Flandern

Die Abtei Saint-Winoc, gelegen an der Küste des Ärmelkanals in der französischen Gemeinde Bergues, ist heute eine Ruine. Hier war der Ort, an dem die Rothschild Canticles niedergeschrieben wurden. Dies belegt erstmals der Kommentar zum Faksimile. Als Auftraggeberin wird eine Nonne oder Chorfrau vermutet, möglicherweise auch eine adlige Dame. Die kompakte Größe der Handschrift deutet darauf hin, dass das Buch zum Mitführen gedacht war. Die geographische Zuordnung der Handschrift zu Flandern passt zu Entstehungszeit und Stil der Handschrift. Doch viele Fragen bleiben noch unbeantwortet. Die Buchmaler und Schreiber, die an der Erstellung der Rothschild Canticles beteiligt waren, sind namentlich nicht bekannt. Aus anderer Quelle schließen wir auf einen Benediktiner-Mönch des Klosters Saint-Winoc als das belesene Genie, das die Texte zusammenfügte.

Der Glasturm der Beinecke Library

Die Beinecke Rare Book and Manuscript Library geht auf eine Stiftung Frederick Beineckes, eines amerikanischen Philanthropen, und seiner Brüder Edwin und Walter zurück. Die Bibliothek ist ein Erlebnis an sich. Eine drehbare Glastür öffnet den Weg ins Innere. Sofort fällt ein sechsstöckiger verglaster Turm aus Bücherstapeln ins Auge. Wohl um die 180.000 Bände sind darin enthalten. Zusammen mit der Eingangsebene fungiert das Zwischengeschoss als Schaufenster für wechselnde Ausstellungen, welche die reichen Sammlungen der Bibliothek hervorheben. Die mit 11,8 x 8,4 cm kleinformatigen Rothschild Canticles sind ein faszinierendes Glanzlicht eines der weltweit größten Archive seltener Bücher und Manuskripte. MS 404 liegt aufgrund seines nicht zu beziffernden hohen Werts in einem Tresor.
Stiftsibliothek St. Gallen

 

Unter der Lupe

Fol. 7r: Drei der sieben Freien Künste sind gezeigt: Musik, die hier einen sehr großen Raum einnimmt und Platz für ein mechanisches Glockenspiel bietet, Logik und Rhetorik.
Die zweite und die dritte Miniatur auf fol. 6v-7r bilden ein Paar und stellen die Sieben Freien Künste dar. Grammatik, Astronomie, Arithmetik und Geometrie nehmen die linke Seite ein; Musik, Rhetorik und Logik (anstelle von Dialektik) die rechte Seite, die Sie hier unter die Lupe nehmen können. Die Figur der Dialectica, die üblicherweise als Unterrichtsszene oder als Streit zwischen zwei Figurengruppen gezeigt wird, ist hier durch eine sitzende Nonne ersetzt.

Sie stellt die personifizierte Logica dar und diskutiert mit einem Mönch. Nicht nur in den Rothschild Canticles, sondern in christlichen Kommentaren schlechthin betrachtete man die Beherrschung der Künste als Vorstufe auf dem Weg zur spirituellen Vollkommenheit. Die Künste wurden als die sieben Töchter der Philosophie bezeichnet, die ihrerseits mit der göttlichen Weisheit in Verbindung gebracht wurde. In den Rothschild Canticles werden die Künste in keinem der Texte erwähnt. Eine erfahrene Leserin hätte jedoch wenig Mühe gehabt, den zugrunde liegenden Sinn der einleitenden Miniaturen zu verstehen.

 

Die Rothschild Canticles: Die Edition

Goldener Psalter von St. Gallen, geschlossen und offen

Handschrift und Faksimile im Überblick

Handschrift: Beinecke Rare Book and Manuscript Library der Yale University, New Haven (Connecticut, USA), MS 404, 2 Bände
Entstehungszeit: um 1300
Ort der Niederschrift: Abtei Saint-Winoc im französischsprachigen Teil Flanderns an der Küste des Ärmelkanals
Format: 11,8 x 8,4 cm
Umfang: 384 Seiten (192 Blatt)
Künstler: unbekannt
Auftraggeber: unbekannt – wohl für eine Nonne oder Chorfrau angefertigt
Ausstattung: 46 ganzseitige Miniaturen mit außergewöhnlicher Ikonographie, 160 kleinere Miniaturen, 41 historisierte Initialen und 23 später hinzugefügte Tintenzeichnungen schmücken die 192 Folios der zwei Bücher. Des Weiteren zieren unzählige Randfiguren und Drôlerien die Seiten und zeugen von der hohen Kunstfertigkeit der beteiligten Illuminatoren und deren Freude am Wirken.
Einband: Getreu dem Original ist das Faksimile in zwei braune Ziegenlederbände gefasst. Das Kapitalband des Faksimiles ist von Hand umstochen.
Kommentarband zur Edition: Prof. Dr. Jeffrey F. Hamburger und Prof. Dr. Barbara Newman. Faksimile und Kommentarband sind in einer handgefertigten Leinenkassette geschützt.
Druckauflage: 480 Exemplare

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Einige Seiten zum Blättern:

Ein Blick in die Rothschild Canticles

Der zum Blättern gewählte Ausschnitt aus den Rothschild Canticles umfasst die Seitenfolge fol. 29v–34r mit mystischen Andachtstexten.
fol. 29v: Vignette, Seher.
fol. 30r: Miniatur, Die klugen und törichten Jungfrauen: Der Tanz im Himmel. Die fünf klugen Jungfrauen tanzen mit Christus (oben); gekrönt bringen sie ihre leuchtenden Lampen, als er sie zum Hochzeitsfest begrüßt (Mitte). Die fünf törichten Jungfrauen steigen mit erloschenen Lampen eine Treppe hinauf, um an eine Tür zu klopfen. Eine wird von einem Teufel niedergestreckt (unten).
fol. 31r: Zeichnung, Antonius begräbt Paulus, den ersten Einsiedler.
fol. 32r: Zeichnung, Ein Einsiedler verbrennt sich den Finger, um der Versuchung zu widerstehen.
fol. 33v: Vignette, Seher.
fol. 34r: Miniatur, Christus als Fons Vitae, Quelle des Lebens. Christus thront über einem turmförmigen Brunnen auf einem bewaldeten Berg. Ströme von Wasser fließen reichlich und durchnässen die in ihnen dargestellten Gesichter.

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Herausforderungen bei der Herstellung: fac simile

Kisten nach Connecticut

Zur Faksimilierung der Rothschild Canticles wurde Spezialequipment nach New Haven, Connecticut, transportiert und in der Beinecke Library, Herzstück des Campus von Yale, aufgebaut. Nur so konnte Seite für Seite der Rothschild Canticles von Spezialisten des Verlags auf bestmögliche Weise fotografiert werden. Zwei große Holzkisten wurden verschickt, deren Holz für die US-Behörden eigens zertifiziert werden musste. Jeder Zentimeter Platz war zu nutzen, sind doch die Frachtkosten ein nicht unerheblicher Kostenfaktor.

Einrichten der Kamera

Die fotografische Erfassung einer Handschrift steht am Beginn jeder Faksimilierung. Verwendet wird eine hochauflösende Digitalkamera, deren Aufnahmewinkel exakt stimmen muss, soll es nicht zu Verzerrungen in den Aufnahmen kommen. Das Original verbleibt in der Bibliothek. Fotografiert wird in einem fensterlosen und erschütterungsfreien Raum. Beim Rothschild-Codex kamen darüber hinaus spezielle Beleuchtungstechniken zum Einsatz, um die feinen Golddetails optimal zu erfassen.

Ziselierungen des Goldes

Ziselierungen, also Verzierungen des für die Illumination verwendeten Goldes, bilden schon bei der Fotografie eine Herausforderung, die bis zum Druck fortdauert. Im Zuge der Faksimilierung müssen feine Linien und Punkte des Goldes exakt platziert und dimensioniert werden. Ein eigener Prägevorgang ist hierfür notwendig, bei dem die Druckstärke sorgfältig kontrolliert werden muss, damit Linien und Punkte gut zu sehen sind, aber nicht auf die Rückseite des Papiers durchdrücken.

Goldener Psalter von St. Gallen

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Das Faksimiledossier zur Edition

Das Faksimiledossier gibt einen ersten Einblick in die mystische Gedankenwelt des Mittelalters.

Der Original-Faksimilebogen (fol. 69-70: Die Hirsche und Hirschkühe des Feldes) mit seiner feinen Punzierung gibt die goldstrahlende Bilderwelt der Rothschild Canticles sehr lebendig wieder. Die Doppelseite bietet eine Kombination rätselhafter Metaphorik. Der Kommentarbandautor Jeffrey F. Hamburger beschreibt diese Seiten ausführlich. Ein Vorgeschmack darauf, was Sie im Kommentarband erwarten wird.

Im 24-seitigen Begleitheft gibt Jeffrey F. Hamburger erste Ausblicke auf eine vielleicht noch unbekannte Reise durch die Welt der Mystik.

Rothschild Canticles

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